Love the Lonely – Verbunden

Er küsst mich! Carey küsst mich! Einen Augenblick vergesse ich alles um mich herum, vergesse, wer ich bin und wo wir sind. Einen Moment, der höchstens eine Sekunde dauert, verliere ich mich in dieser Fantasie, die ich doch schon überwunden geglaubt hatte.

Aber dann, dann kommt plötzlich alles zurück. Carey hat eine Freundin. Und ich? Ich habe Deacon. Und ich mag ihn. Und ich will herausfinden, was das mit uns ist. Ich will herausfinden, ob wir mehr als nur eine kleine Sommerromanze haben. Und deshalb stemme ich meine Hände gegen seine Brust – die sich viel zu gut unter meinen Fingern anfühlt – und drücke ihn von mir.

Der Moment, in dem sich unsere Lippen trennen, fühlt sich an wie der größte Verlust, den ich je erlitten habe. Es zieht so richtig in meinem Herzen. Und alles in mir schreit, dass ich nicht damit aufhören soll, dass das hier richtig ist und wahrhaftig und es immer weitergehen sollte.

Aber mein Kopf, mein Kopf sieht das anders.

Einen Augenblick hat Carey die Augen noch geschlossen, bevor er sie aufmacht und mich irgendwie verständnislos ansieht. Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass irgendjemand ihm widerstehen kann. Vielleicht war er so in den Kuss vertieft, dass die Trennung auch für ihn irgendwie … na ja, schmerzhaft? … gewesen ist? Ich weiß es nicht. Aber sein Blick ist fragend.

Ich beiße mir auf die Lippe, hoffe, dass ich mich davon abhalten kann, ihn wieder zu küssen. Noch dazu war das hier ja nicht irgendein Kuss. Es war mein erster Kuss. Und wenn ich später im Bett liege, werde ich mir wahrscheinlich drei Stunden lang Gedanken über ihn machen, werde jede Einzelheit sezieren und jedes Gefühl nachempfinden wollen, aber jetzt gerade spüre ich Bedauern. Ich spüre Bedauern, dass mein erster Kuss ein Kuss gewesen ist, der nicht für mich bestimmt war. Der nicht mir gehört. Denn das tut er nicht. Er gehört einer anderen. 

Und ich mag nicht viel Erfahrung mit Männern und Beziehungen und der Liebe haben, aber ich weiß, dass ich das nicht will. Ich will nicht die Frau sein, die den Mann einer anderen küsst. Auf gar keinen Fall. Und deswegen ist es richtig, diesen Kuss zu unterbrechen.

Ich sehe ihm in die Augen und er sieht mich auch an. Es ist, als würden wir eine ganze Unterhaltung führen, nur mit unseren Blicken. So genau weiß ich nicht, was ich ihm sage, aber er fragt sich, ob er etwas falsch gemacht hat. Ob er Signale falsch gedeutet hat.

»Ich kann das nicht.« 

Ich spreche es aus, weil es nichts bringt, wenn ich versuche, es nur mit den Augen zu sagen. Das kann zu unglaublichen Missverständnissen führen. Das ist nicht die Art von Unterhaltung, die wir brauchen. Es muss klar sein, eindeutig.

»Wieso nicht?«

Ich trete einen Schritt zurück, und dann noch einen, bevor ich stehen bleibe. Ich kann ihm nicht so nah sein, denn ich bin vollkommen erfüllt von ihm. Von seinem Geruch und der Art, wie er sich anfühlt und wie er schmeckt. Ich muss Abstand zu ihm einnehmen, sonst kann ich nicht klar denken. Und wenn es irgendwann in meinem Leben jemals einen Grund gab, klar zu denken, dann jetzt. Denn es sind diese Augenblicke, die entscheiden, was für eine Art Mensch man ist. Und ich will auf jeden Fall die Art Mensch sein, der ich noch im Spiegel begegnen kann.

Ich atme ein, so tief wie ich kann, aber durch den Mund, damit sein Geruch nach … ich weiß nicht mal genau, wonach er riecht … mir nicht in die Nase strömt und mein Gehirn im Nebel versinken lässt. »Du hast eine Freundin.«

Er reißt die Augen auf, und dann hat er plötzlich so einen schuldigen Gesichtsausdruck, dass ich weiß, dass er sie einfach vergessen hat. Und das erschreckt mich. Es erschreckt mich, weil das so in meinem Liebesroman nicht vorkommt. Wenn sich der Held und die Heldin gefunden haben, kann sie nichts mehr trennen. Sie denken nur noch aneinander, haben keine Augen mehr für jemand anderen. Und natürlich weiß ich, dass Romane keine Realität sind, aber sie sind die einzigen Vertrauten, die ich habe. Alles, was ich über die Liebe und über Sex weiß, habe ich aus Romanen – und von meinen beiden Freundinnen, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Aber woher sollte ich wissen, dass Männer manchmal ihre Freundinnen vergessen?

Er seufzt. »Eva. Ich hab Eva.«

»Ja, genau. Und ich …« Ich will nicht sagen, dass ich Deacon hab, denn eigentlich hab ich ihn ja noch nicht so wirklich. Aber ich will wissen, ob wir eine Chance haben. Und deswegen … »Und ich hab Deacon.«

Er sieht mich analysierend an, bevor er fragt: »Dann ist das zwischen euch etwas Festes?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist noch zu neu, um das sagen zu können.«

»Aber du willst es herausfinden?«

Ich nicke. »Und du hast doch Eva.«

Carey streicht sich durch die Haare, die vielleicht einen Tick zu lang sind. »Ja, ich hab Eva.« Dann öffnen sich seine Augen ein wenig weiter. »Und was wäre, wenn sie nicht da wäre?«

»Aber sie ist da.«

»Aber wenn nicht?«

»Carey, du hast eine Freundin. Es bringt überhaupt nichts, über andere Eventualitäten nachzudenken, wenn das der Fakt ist. Du hast eine Freundin.«

Er seufzt erneut, dreht sich um, stemmt die Hand gegen die Wand, sieht irgendwie frustriert aus. »Ich weiß.«

»Ja, dann müssen wir doch nicht weiter darüber reden. Es war ein Fehler.« 

Und es bringt mich beinahe um, das zu sagen, denn ich wollte niemals, dass mein erster Kuss ein Fehler ist. Wer will das schon? Wer will, dass dieser Moment ein Fehler ist?

Er dreht sich um, sieht mich an. »Findest du?«

»Du bist nicht frei, andere zu küssen.« 

Ich weiß nicht, wo ich den Mut hernehme, diese Worte zu sagen. So lange habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, ihn zu küssen. Wenn er mein wäre und nicht ihrer. Aber jetzt, jetzt in diesem Moment, in dem ich das Gefühl habe, ich müsste nur zugreifen, mache ich einen Rückzieher. Weil ich eben nicht diese Frau sein will. Und irgendwie nehme ich ihm gerade übel, dass er mich für ein paar wenige Sekunden zu ebendieser gemacht hat.

»Aber wenn ich es wäre? Wäre Deacon dann wichtig?«

»Es ist egal. Weil du es ja nicht bist.«

»Aber wenn?« Seine Stimme klingt ein wenig insistent.

»Warum sollen wir darüber reden, Carey? Es ist nicht die Realität.«

»Na ja, Realitäten kann man ändern.«

Ich schaue ihn an, überrascht irgendwie. »Was meinst du damit?«

»Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken.«

Und dazu fällt mir nichts ein. Mein Mund bleibt offen stehen. Immer wenn ich das in Romanen gelesen habe, habe ich gedacht, was für ein Schwachsinn. Aber jetzt, jetzt geht es mir selbst so.

»Denkst du manchmal an mich?«

Nur ständig. Aber das kann ich nicht sagen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich momentan überhaupt keinen Laut von mir geben kann, würden diese zwei Worte genau das Gegenteil von dem bewirken, was ich eigentlich möchte.

»Liv …«

Kaum einer nennt mich so. Alle sagen nur Olivia. Aber irgendwie fühlt sich das nett an. Und deswegen weiß ich, dass ich das hier jetzt beenden muss.

»Es ist vollkommen egal, was ich will. Und was ich mache. Du hast eine Freundin.«

Ich bemühe mich, ihm dabei ernsthaft in die Augen zu sehen, um ihm zu zeigen, dass an dieser Stelle überhaupt gar kein Spielraum ist.

»Aber …«

»Nein, kein Aber. Hast du eine Freundin oder hast du keine?«

»Ja, aber …«

»Nein, dann ist da kein Raum für aber. Bitte geh.«

Ich hätte niemals gedacht, dass ich das jemals zu ihm sagen würde. Dass ich mir jemals wünschen würde, dass er nicht da ist, sondern weggeht. Aber dieser Moment, dieser Moment, den ich seit sechsundzwanzig Jahren – okay, das ist ein bisschen übertrieben – herbeigesehnt habe, ist so furchtbar. So unglaublich furchtbar, weil er nicht so ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Mit diesem schalen Kuss hat er all meine Kleinmädchenträume zerstört. Und das kann ich ihm irgendwie nicht verzeihen.

»Liv …«

Ich schüttele einfach nur den Kopf.

Er sieht mich an, forscht in meinem Gesicht, ob ich es wirklich ernst meinen könnte, aber so ist es. Ich will nicht diese Frau sein, und ich hasse, dass er mich zu dieser Frau machen will.

Dann nickt er plötzlich, auf eine ganz langsame Art und Weise, die mir zeigt, dass er verstanden hat. Er will es nicht, will kämpfen, aber er versteht. Und dafür bin ich unglaublich dankbar, denn länger könnte ich es nicht aushalten. Länger könnte ich den Mann, den ich so sehr gemocht habe, nicht zurückweisen.

»Tut mir leid«, flüstert er, bevor er den Laden verlässt.

Ich schaue ihm hinterher, spüre, wie mit jedem seiner Schritte mein Herz ein wenig mehr bricht. Und es ist so albern, so unglaublich albern, weil wir doch eigentlich nichts hatten. Aber das Herz will, was das Herz will.

Als er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, ist es, als würde die ganze Courage, die ich in den letzten Minuten aufgebracht habe, aus mir verschwinden wie die Luft aus einem Ballon. Ich merke, wie mir die Knie weich werden, stütze mich an einem Regal ab, aber es hilft nichts. Langsam sinke ich zu Boden. Das hat mich all meine Kraft gekostet. Innerlich weiß ich, dass das genau richtig gewesen ist, aber manchmal fühlt sich das Richtige eben vollkommen scheiße an.

Ich lehne mich an, frage mich, was er sich dabei gedacht hat. War er doch eifersüchtig? Und wenn ja, dann erst ab dem Moment, als er plötzlich das Gefühl hatte, mich verlieren zu können, weil jemand anderes mich will. Das ist doch nichts Wahres. Wenn man jemanden nur dann haben will, wenn jemand anderes einem zuvorkommt? Nein, das kann mir niemand erzählen, dass das Anzeichen von Verliebtheit sind.

Habe ich mich richtig verhalten?

Seit ich Carey das erste Mal gesehen habe, fantasiere ich über … na ja, uns. Ich habe mir vorgestellt, dass er mich vielleicht genauso mögen könnte, wie ich ihn mag. Aber diese Idee verflüchtigte sich mehr und mehr. Bis nur noch ein Schatten übrig war. Und dann ist auch dieser verflogen. 

Und jetzt? Jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht diese Chance, die er mir präsentiert hat, mit beiden Händen hätte ergreifen sollen. Ob ich nicht einfach all meine moralischen Vorstellungen über Bord hätte werfen sollen, um diese Gelegenheit wahrzunehmen.

Aber das ist doch eine universelle Regel. Männer verlassen ihre Freundin nicht für die andere Frau.

Ich will es nicht wahrhaben, will dagegen argumentieren, will sagen, dass ich doch die eine Ausnahme sein könnte. Aber viel eher ist man doch die Regel als die Ausnahme. Denn wenn alle Ausnahmen wären, dann wären sie ja die Regel. Daher nein, es war richtig, aber es fiel mir so schwer. Es fiel mir so schwer, weil ich eigentlich sagen wollte: Lass uns verschwinden und in den Sonnenuntergang reiten. Du und ich für immer und ewig.

Aber das habe ich nicht getan, oder?

Stattdessen habe ich ihm gesagt, dass ich das nicht will. Dann habe ich ihn daran erinnert, dass er doch eine Freundin hat. Und so wie ich bisher den Eindruck hatte, waren sie ja auch sehr verliebt. Keine Ahnung, was ihn geritten hat, aber … Ja, keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich weiß, dass das so nicht geht. Dass das so für mich nicht geht.

Und deswegen habe ich ihn abgewiesen, auch wenn es das Schwerste war, was ich je tun musste.

Aber heißt das, dass er doch eifersüchtig war?

Oder wollte er mich nur, weil er mich vermeintlich nicht mehr haben konnte?

Diese Gedanken ergeben überhaupt keinen Sinn. Denn es ist die gleiche Art Gedanken, die er auch angefangen hat. Hätte, würde, wäre. Das bringt uns keinen Deut weiter. Und deswegen sollte ich damit aufhören. Aber auch das ist ein Konjunktiv. Natürlich weiß ich ganz genau, dass ich nicht aufhören werde, darüber nachzudenken. Weil es mich vollkommen verrückt macht.

Am liebsten würde ich mir Rat holen. Bei Sabrina oder Lorena. Aber ich habe ihnen gar nichts von dieser ganzen Carey-Situation erzählt, also wäre das doch jetzt ein wenig … na ja, merkwürdig. 

Wenn ich laufen könnte, würde ich ins Fox Café gehen, um Peggy zu berichten, was geschehen ist. Aber ich glaube nicht, dass meine Beine mich die paar Meter tragen können. Und so bleibe ich hier auf dem Boden sitzen, mit geöffneter Tür, sodass jeder sehen könnte, wie absolut armselig ich doch bin.

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