Leseprobe „Dear April“

Ich schaue auf das Tablett, das vor mir auf dem Tresen steht. Drei Cappuccino, zwei Latte Macchiato und zwei Flaschen Wasser für die fünf Mädels in den blauen T-Shirts, die sie als Mitglieder des Walters College Track Teams ausweisen. Dunkelblau mit weißer Schrift Walters. Es ist das Elite-College unserer mittelgroßen Stadt New Harbour in Massachusetts. Zwanzig Prozent der Einwohner sind Studenten, und viele von ihnen kommen in dieses Café. Was auch der Grund ist, warum ich hier arbeite, denn all die Kids mit ihren Trustfonds lassen meine Trinkgelder klingen.

Aber eigentlich hasse ich es. Hasse sie. Diese Mädchen, die alles haben, was ich mir wünsche. Studieren zu können. Okay, einen Trustfonds zu haben, wäre auch nicht schlecht, aber man kann ja nicht alles haben. Ein Stipendium für das Walters würde mir reichen. Ich bin da eigentlich genügsam. Gebt mir nur dreißigtausend Dollar pro Semester. Mehr verlange ich nicht.

Die Realität sieht leider anders aus. Auch die großzügigen Trinkgelder werden mich nicht auf dieses Prestige-College bringen. Ohne reiche Eltern ist es in Amerika kaum möglich eine gute Ausbildung zu erlangen. Ohne gute Ausbildung wird man nie etwas anderes als Kellnerin im Little Bird Café. Und wenn man Kellnerin im Little Bird ist, verdient man nie genug Geld, um eine gute Ausbildung zu finanzieren.

Ich hebe das Tablett an, bringe es an den Tisch, schaue in die strahlenden Gesichter, die sich freundlich für ihren Kaffee bedanken. Ich lächele zurück, gehört sich schließlich so, aber mein Herz schreit, weil ich das auch will. Studieren ist mein größter Traum, einer, der vielleicht niemals in Erfüllung geht.

»Das macht dann zweiunddreißig Dollar und fünfzig Cent.«

Eine der fünf zieht einen Fünfziger aus der Handtasche. »Stimmt so.«

»Vielen Dank. Wenn ihr noch etwas braucht, ruft nach April.«

Sie lächelt mich an. Perfekte Zähne in einem perfekten Mund, der zu einem perfekten Lächeln verzogen ist. »Danke dir.«

Ich kümmere mich um die anderen Gäste, eile von einem Tisch zum anderen, zum Tresen und wieder zurück. Die Studenten kommen auch gerne hierher, weil es eines der wenigen Cafés ist, das einen Tischservice anbietet. Sonst gibt es meist nur Starbucks-Style, aber viele finden das ungemütlich. Was ich auch verstehen kann. Es ist einfacher, wenn man kurzerhand jemanden rufen kann, der einem jeden Wunsch erfüllt. Beinahe jeden.

Es ist ein langer Tag. Als um sieben meine Schicht zu Ende ist, bin ich froh, dass ich mich gleich zu Hause hinsetzen kann. Der Vorteil dieses Jobs sind die Trinkgelder, der Nachteil ist, dass man zehn Stunden am Stück auf den Beinen ist. Und ich meine auf den Beinen. Hin und her. Aber irgendwie muss man ja Geld verdienen.

Ich steige in meinen alten Volkswagen Jetta, der schon bessere Tage gesehen hat, und fahre die wenigen Meilen nach Hause, in einen Vorort, der nicht unbedingt zu den besten Gegenden der Stadt gehört. Als ich reinkomme, sitzt Dad auf der Couch und starrt in den Fernseher.

»Hey, Dad.«

»Hey, Kleines. Was gibt es Neues?«

»Nichts Neues zu vermelden. Und bei dir?«

»Ich hab bei O’Briens nach einem Job gefragt, aber sie haben nichts frei.«

Vor drei Jahren ist Mom gestorben und seit dem trauert Dad. So sehr, dass er vor zwei Jahren seinen Job verloren hat. Sporadisch geht er zu Bewerbungsgesprächen, aber uns ist beiden klar, dass es nur Fassade ist. Er ist zerbrochen. Wenn man seine große Liebe an den Krebs verliert, kann das schon mal alle Lebensenergie aus einem saugen.

»Hast du schon was gegessen?«, frage ich, als ich den Kühlschrank öffne.

»Nein, ich hab auf dich gewartet.«

»Wir haben noch ein bisschen Hack. Ich kann uns eine Nudelpfanne machen.«

»Was du möchtest, Kleines.«

Ich hole alles aus dem Kühlschrank, was ich gebrauchen könnte, als mein Blick auf den Stapel mit der Post fällt. Ich blättere sie durch und stutze, als ich einen Brief vom Stromversorger National Grid bekomme. Eine Mahnung. Offensichtlich die zweite.

»Dad, ich hatte dir doch das Geld für den Stromanbieter gegeben. Wieso bekommen wir eine Mahnung?«

»Ich kann mich nicht erinnern, Kleines.«

Ich schnaube. Ich will nicht unfair sein. Wirklich nicht, aber es ist schwer mit neunzehn die Verantwortliche in diesem Haus zu sein. Dies sollte eine Zeit sein, in der ich verrückte Dinge mache, mich ausprobiere, Fehler mache. Stattdessen habe ich das Gefühl, als wäre ich die Mom hier. Ganz und gar kein gutes Gefühl.

Da muss ich mich morgen direkt drum kümmern, nicht, dass uns der Strom abgestellt wird. Das war beim letzten Mal schon schlimm genug. Wie gut, dass ich morgen auch erst um neun ins Café muss. Vielleicht kann ich das dann noch vorher regeln. Die andere Post besteht aus Katalogen und Werbung. Ich schlucke, als ich den Namen Darlene Hill auf einigen der Prospekte lese. Der Name meiner Mom. Ich wünschte, es wäre wieder wie früher. Mom und Dad verliebt und hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, was mir viele Freiheiten gelassen hat. Trotzdem waren sie immer für mich da – zumindest hatte ich damals das Gefühl –, waren meine Felsen in der Brandung, meine Schultern zum Anlehnen. Daher ist es für mich selbstverständlich, dass ich mich jetzt um Dad kümmere. Und trotzdem …

Die Zwiebeln ziehe ich ab, bevor ich sie in kleine Würfel schneide. Ich zerkleinere Paprika, Zucchini und Tomaten, stelle den Herd an und erhitze die große, gusseiserne Pfanne darauf. Dann gebe ich ein wenig Öl hinein, bevor ich das Hackfleisch anbrate. Wie immer habe ich vergessen, zuerst das Nudelwasser zum Kochen zu bringen, was ich jetzt nachhole. Ich schaue aus dem Fenster, das mal wieder geputzt werden könnte. Vielleicht am Wochenende.

Als die Nudel-Gemüse-Hackpfanne fertig ist, decke ich den Tisch. »Dad, das Essen ist fertig.«

»Kannst du es mir bringen? Sie zeigen gerade diese Rede.«

Wann haben wir das letzte Mal zusammen an einem Tisch gesessen? Ich fülle seinen Teller, bringe ihm den mit einer Gabel und einem Bier.

»Danke, Kleines.«

Alleine setze ich mich an den Tisch, aber irgendwie bin ich gar nicht mehr wirklich hungrig. Stattdessen wird mir das Herz schwer, weil ich das Gefühl habe, in einem großen Ozean zu schwimmen und kaum noch den Kopf über Wasser halten zu können. Wann bin ich so einsam geworden?

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